* 22 *
Beetle, Jenna und NachtUllr traten aus der Geheimtür im Bücherregal ins schummrige Manuskriptorium, das nur von den Fackeln der Zaubererallee erhellt wurde, die flackerndes Licht durch die Fenster des Schreibkontors warfen.
»Dieser Junge«, sagte Jenna, als sie Beetle durch den Gang zwischen den leeren, hohen Schreibpulten folgte. »Ich glaube, ich weiß, wer er ist.«
»Ja«, erwiderte Beetle verdrossen. »Das ist der neue Schreiber. Miss Djinn sollte sich mal untersuchen lassen, ob sie noch richtig im Kopf ist, wenn sie so jemanden wie den einstellt. Sie hätte doch merken müssen ...«
»Was merken müssen, Mr. Beetle?«, ertönte aus dem Dunkeln Jillie Djinns Stimme.
»Iiih!«, schrie Beetle, der nach dem Zwischenfall mit Ullr noch etwas schreckhaft war. »Was ... wo?«
»Hier oben«, antwortete Miss Djinn von irgendwo über ihnen. Er schaute nach oben. Jillie Djinn saß auf Partridges Platz und hatte sich mit ihrer kleinen beleuchteten Lupe ein Bündel Papiere angesehen. Jetzt wandte sie ihre Aufmerksamkeit Beetle und Jenna zu, ohne Ullr im Halbdunkel zu bemerken. Mit zornrotem Gesicht blickte sie von oben herunter. »Ich war gerade dabei, Mr. Partridges Arbeit zu kontrollieren. Seit drei Tagen genügen seine Leistungen nicht mehr den Anforderungen. Ich habe seine Berechnungen zur durchschnittlichen Zuwachsrate bei der Papierverschwendung durch Schreiber mit weniger als zwölf Monaten Berufserfahrung im Zeitraum der letzten dreidreiviertel Jahre überprüft. Ich kam gerade zu dem Ergebnis, dass sie jenes Maß an Genauigkeit, das ich von meinen Schreibern erwarte, vermissen lassen, als ich hörte, wie in empörender Weise mit einer Außenstehenden über das Befinden meines Kopfes gesprochen wurde, und obendrein ...«
»Jenna ist keine Außen ...«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Prinzessin Jenna mag eine bedeutende Persönlichkeit sein, aber sie ist keine Mitarbeiterin des Manuskriptoriums und ergo eine Außenstehende. Und Sie, Mr. Beetle, haben soeben eine Außenstehende durch einen Gang geführt, den zu betreten Unbefugten streng verboten ist.«
»Aberich ...«
Jillie Djinn setzte ihre Gardinenpredigt fort. »Und damit nicht genug, Mr. Beetle. Sie haben mit der oben genannten Außenstehenden über vertrauliche Angelegenheiten des Manuskriptoriums gesprochen und Ihre Obergeheimschreiberin beleidigt, die jederzeit zu respektieren Sie geschworen haben. Sie haben also gegen drei Grundsätze des Manuskriptoriums verstoßen, auf die Sie einen Eid geleistet haben.«
»Aber ...«
»Sie sollen mich nicht unterbrechen. Ich bin noch nicht fertig. Darüber hinaus ist mir nicht verborgen geblieben, dass Sie es versäumt haben, sich ordnungsgemäß um den Inspektionsschlitten zu kümmern.«
Beetle entfuhr ein leises Stöhnen.
»Mein neuer Schreiber, Daniel Jäger, hat mich von einem Gespräch zwischen Ihnen und Mr. Fox in Kenntnis gesetzt, dessen Zeuge er zufällig geworden ist. Danach haben Sie Mr. Fox vor zwei Tagen zu einem ungenehmigten Ausflug in die Eistunnel mitgenommen, um den Inspektionsschlitten zu bergen, den in bewährter Weise zu sichern sie unterlassen hatten. Des Weiteren soll Mr. Fox nach einer unliebsamen Begegnung mit dem Eisgeist den restlichen Tag im Krankenzimmer zugebracht haben, sodass wir an dem betreffenden Nachmittag erneut einen Schreiber zu wenig hatten. Stimmt das?«
Beetle nickte traurig.
»Antworten Sie mir!«
»Ja, es stimmt«, murmelte Beetle. Jenna warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, doch er bemerkte es nicht, denn er starrte niedergeschlagen auf seine Stiefel.
Leider war Jillie Djinn noch immer nicht fertig. »Normalerweise wäre ich nach einer schriftlichen Entschuldigung und der Versicherung, die Vorschriften des Manuskriptoriums künftig strikt einzuhalten, bereit, über ein so schändliches Verhalten hinwegzusehen.«
Beetle schaute zu ihr auf, doch sie sah durch ihn hindurch. Selbst in dem roten Fackellicht, das durch die Fenster fiel, sah er blass aus. Er wusste, dass gleich ein Aber kam. Ein dickes Aber.
Es kam.
»Aber«, fuhr Jillie Djinn fort, »ich bin nicht bereit, darüber hinwegzusehen, dass mein Prüfgehilfe heimlich an einem erfolgreichen Versuch, eine versiegelte Luke zu öffnen, mitgewirkt hat. Und dass er dann, wie ich höre, durch diese Luke gestiegen und in ein Sperrgebiet eingedrungen ist.«
Beetle wurde schlecht. Jillie Djinn war dahintergekommen – er hatte es gewusst.
Jillie Djinn schaute aus der erhabenen Höhe des Pultes herab und machte keine Anstalten, zu ihnen hinunterzusteigen, vielleicht, wie Jenna überlegte, weil Beetle gut fünfzehn Zentimeter größer war als sie. Doch in diesem Augenblick hätte sich Beetle nicht kleiner fühlen können. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken.
»Mr. Beetle.« Jillie Djinn richtete sich kerzengerade auf, und wie ein Richter, der ein besonders hartes Urteil fällt, verkündete sie: »Ich bringe Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass Ihr Arbeitsverhältnis mit dem Manuskriptorium mit sofortiger Wirkung beendet ist. Ihre Verträge werden verbrannt. Sie werden auf der Stelle gehen und ihre persönlichen Dinge mitnehmen.«
Jenna und Beetle stockte der Atem. » Was?«
»Sie sind gefeuert!«, bellte Jillie Djinn, die sich erschreckend kurz fassen konnte, wenn sie wollte.
»Das können Sie nicht tun«, protestierte Jenna. »Beetle ist ein hervorragender Mitarbeiter. Ohne ihn bricht hier alles zusammen. Sie sind verrückt, wenn Sie ihn entlassen – er ist Ihre beste Kraft.« Jenna hielt inne. Zu spät wurde ihr klar, was sie gesagt hatte.
»Das geht Sie nichts an, Prinzessin Jenna«, erwiderte Jillie Djinn kühl. »Ich leite das Manuskriptorium so, wie ich es für richtig halte, und lasse mir von niemandem Vorschriften machen. Auch nicht von Ihnen.«
Beetle brachte keinen Ton heraus. Die hoch aufragenden Schatten der Pulte schienen spöttisch um ihn herumzutanzen, während er zu begreifen versuchte, was soeben geschehen war. Jenna nahm ihn am Arm und schob ihn in Richtung Kundenraum. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Sie meint es nicht ernst. Das kann nicht ihr Ernst sein.«
Aber Beetle wusste es besser. Er kannte Jillie Djinn. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie daran fest und ließ sich durch nichts und niemanden davon abbringen.
Als Jenna die Tür zum Kundenraum öffnete, hallte Jillie Djinns Stimme durchs leere Manuskriptorium: »Sie haben fünf Minuten, um Ihren Schreibtisch auszuräumen, Mr. Beetle.«
Danach sagte die Obergeheimschreiberin nichts mehr – sie hatte nämlich NachtUllr entdeckt, der im Halbdunkel hinter Jenna hertapste. Jillie Djinn hatte schreckliche Angst vor wilden Tieren. Sie rührte sich, gefangen an Partridges Pult, nicht von der Stelle, und es sollte bis weit nach Mitternacht dauern, ehe sie sich ein Herz fasste und in ihr sicheres Zimmer im Obergeschoss flüchtete.
Jenna bugsierte Beetle, der sich wie ein Schlafwandler bewegte, in den Kundenraum und schlug wütend die Tür zu. Ein Blick auf Beetle sagte ihr, dass er seinen Schreibtisch jetzt nicht ausräumen würde. Er stand einfach nur da, sah sich im Raum um und betrachtete die Dinge, die er liebte: die hohen Papier- und Bücherstapel im Schaufenster, seinen Schreibtisch, seinen Drehstuhl, das Wurstbrot, das Foxy ihm am Morgen gekauft und das er nur angebissen und dann vergessen hatte, und sogar die Tür zum Magazin für wilde Bücher. All diese Gegenstände betrachtete er in der Gewissheit, dass er sie nie wieder mit denselben Augen sehen würde. Selbst wenn er jemals wieder einen Fuß ins Manuskriptorium setzte sollte, was er bezweifelte, würden sie nicht mehr dieselben sein. Sie würden einem anderen gehören. Ein anderer würde an seinem Schreibtisch sitzen und Foxys Wurstbrote essen.
»Willst du etwas mitnehmen?«, fragte Jenna.
Er schüttelte den Kopf.
Jenna blickte zu seinem Schreibtisch, den er bei Dienstschluss aufgeräumt hatte. Sein Dienstfederhalter steckte zusammen mit anderen, schlichteren Schreibgeräten im Stifteköcher. »Ich hole deinen Federhalter. Den wirst du doch nicht hierlassen wollen.«
Aber Beetle wollte nichts mitnehmen, was für ihn mit Erinnerungen verknüpft war. »Foxy«, krächzte er. »Gib ihn Foxy.«
»In Ordnung.«
Jenna schrieb rasch eine kurze Nachricht für Foxy und band sie mit Zauberverpackungsschnur an Beetles Federhalter–ein schönes schwarzes Schreibgerät aus Onyx mit einer kunstvollen jadegrünen Einlegearbeit, deren komplizierte Schnörkel bei genauerem Hinsehen Beetles Namen ergaben. Jenna legte den Federhalter auf den Schreibtisch in der Hoffnung, dass Foxy seinen Namen auf der Nachricht las, den sie in ihrer großen, geschwungenen Handschrift, die, wie ihr Aufsatzlehrer bemängelte, von Tag zu Tag ausladender wurde, daraufgeschrieben hatte.
Sie fasste Beetle sanft am Arm und schob ihn zur Tür. Sie drückte fest die Klinke, und mit einem Pi-ing flog die Tür auf. Draußen heulte der Wind, und kalter Regen klatschte gegen die Schaufensterscheiben. Es war ein bedrückend dunkler Abend, und daran änderten auch die Fackeln, von denen einige der Wind ausgeblasen hatte, wenig. Laub und Unrat wehten ins Manuskriptorium und wirbelten um ihre Füße. Beetle blieb reglos in der Tür stehen, bis Jenna sich bei ihm unterhakte und ihn mit nach draußen zog.
Mit einem lauten Knall schlug die Tür hinter ihnen zu.